Auf den Spuren eines Spions

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Das Gedächtnis der Leute ist manchmal recht kurz. Heute, wo jeder hingehen kann, wohin er will, beklagen sich viele über die verschwundene Billigwurst, haben aber längst vergessen, dass direkt hinter Mērsrags, vor der Straße, oft eine gestreifte Bombe einschlug und bewaffnete russische Soldaten, die sogenannten Grenzsoldaten, sie nur mit schriftlichen und gestempelten Genehmigungen durchließen. Und nicht jeder Einwohner der Lettischen SSR konnte eine solche Genehmigung erhalten, sondern nur diejenigen, die zuvor eine sogenannte Vorladung vom Gemeinderat von Roja oder Kolka erhalten hatten. Auf dieser Grundlage konnten sie nach zehn Tagen bei ihrer Milizeinheit ein Visum für die Einreise in die gesperrte Grenzzone erhalten (oder auch nicht). Ich hatte ein Haus an dieser unglückseligen Küste Kurlands gekauft, und so mussten meine Familie und ich jeden Frühling beten und demütig sein, damit die Behörden die Einreisegenehmigung verlängerten.

Einmal fiel unsere erste Ankunft in Aizklāņi auf Ostern. Nachdem unsere Papiere in Mērsrags und Roja kontrolliert worden waren, wurden wir vor Melnsilas – am Dundagas-Knie – zusätzlich angehalten und kontrolliert. Ein Grenzwagen und bewaffnete Soldaten tauchten an der Kreuzung auf; der Offizier meldete etwas über Funk. Offenbar waren die wachsamen sowjetischen Grenzsoldaten wieder einmal in eine Spionageaffäre verwickelt. Als wir unser Haus erreichten, hatte sich in der Nähe eine regelrechte Militäroperation abgespielt: Ein Armee-Bobik mit ausgefahrener Antenne stand am Waldrand, aufgeregte Rufe waren über den Lautsprecher zu hören, kurze Zeit später kam der Chef selbst vom Außenposten Kolka angerannt, während eine Gruppe mit Maschinengewehren bewaffneter Soldaten und ein Wolfshund am Waldrand entlangrannten. Wir fuhren in unseren Hof, von wo aus wir das Geschehen über den Zaun beobachten konnten, fast wie in einem Spionagefilm.
Die Geschichte nahm eine völlig unerwartete Wendung: Während der Hund laut bellte, umstellten Grenzsoldaten das Haus unseres Nachbarn! Dort wohnte August Rosenfeld (möge er nun in Frieden auf dem Friedhof von Melnsila ruhen!) – damals ein Held der sozialistischen Arbeit und Abgeordneter des Obersten Sowjets der UdSSR, ein Mann, der so selbstverständlich zwischen Kreml und dem Kreml hin und her ging wie andere zum Kaufhaus Roja oder zum Markt in Talsi. Konnte man einen solchen Mann verdächtigen? Die Grenzsoldaten betraten sein Haus. Zwar kamen sie nach fünf Minuten wieder heraus und fuhren weg. Die Operation war beendet, Ruhe und Frieden kehrten ein.
Wir erfuhren erst viel später, was wirklich geschehen war. Es stellte sich heraus, dass Augusts Rosenfeldu am Ostermorgen selbst, als ein feiner, unwirtlicher Nieselregen fiel, sich einen Planenmantel überzog, seinen geliebten grauen Jockey aufsetzte und zum Waldrand ging. Dort schritt er zwischen den Baumstämmen hin und her, bis er sich an eine dichte Tanne hockte und vorsichtig etwas ins Moos kratzte. Während er ging, bedeckte er die Stelle sogar mit Nadeln. Nicht lange danach klingelte am Grenzposten Kolka (dessen Mauer, wie auch an anderen Grenzposten, mit einem Slogan in deutlichem Russisch verziert war: „DAS GESAMTE VOLK BEWAHRT DIE GRENZE DER UdSSR“) ein Telefonanruf. In gebrochenem Russisch meldete der wachsame Volksvertreter, er habe soeben einen verdächtigen Mann in einem Planenanzug im Wald bemerkt. Dieser habe etwas unter einer Fichte ausgegraben, offenbar ein Funkgerät, und sei dann spurlos verschwunden. Sofort wurde Kampfalarm ausgelöst.
Um Ihnen endlich etwas Klarheit in diesem ganzen Detektiv-Militär-Patriotismus-Unsinn zu verschaffen, muss ich enthüllen, dass mein Nachbar Augusts an jenem Ostermorgen kein Walkie-Talkie unter dem Weihnachtsbaum in der Nähe seines Hauses versteckt hatte, sondern… bemalte Eier, damit sie später zusammen mit seinen Enkelkindern, die zu Besuch gekommen waren, dieses Geschenk des Osterhasen zufällig finden würden!

„Das ist doch ein Witz!“, wird vielleicht ein Leser ausrufen: „Dann stellt sich heraus, dass die Russen in Kurland so dumm wie Bohnenstroh waren!“
Aber in Wahrheit waren sie schlauer als die Schlauesten: Sie machten aus jeder Mücke einen Elefanten, um ihre Moskauer Vorgesetzten ständig an die gefährliche Lage an diesem Ufer zu erinnern und damit niemand auf die Idee käme, das Personal zu reduzieren oder es woanders hinzuversetzen (zum Beispiel an die Grenze zu … brrr … Afghanistan). Hier führten die Offiziere mit den grünen Mützen ein goldenes Leben: Sie konnten Lachse in den Bächen fangen, die ins Meer mündeten, in den Wäldern jagen, Pilze und Beeren sammeln. Als der Rückzug der russischen Armee endlich begann, las ich in der Zeitung, wie der Chef der Grenzpolizei von Ventspils gegenüber Korrespondenten beklagte, welch schreckliches Unrecht nun den Frauen und Kindern der Offiziere widerfahren würde. Nun, was meinen Sie? Sie sind es gewohnt, hier in den Wäldern Beeren und Pilze zu sammeln und für den Winter vorzubereiten – was sollen sie, die Armen, jetzt tun, wo sie in die russische Ebene vertrieben wurden?

Erzähler: Aivars Freimanis; Diese Geschichte aufegschrieben: Inese Roze, Jana Kalve
Verwendete Quellen und Referenzen:

LĪVLI – Monatszeitschrift der Livländischen Union und „Lībiešu krastas“ 1994. Nr. 1 – gesendet von Inese Roze (Talsu TIC)

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Zugehörige Objekte

Ausstellung sowjetischer Militärfahrzeuge

Edgars Kārklevalks, der Gastgeber des Ferienhofes „Pūpoli“ im Kreis Dundaga, bietet bereits seit mehr als 15 Jahren militärhistorische Erkundungstouren zu ehemaligen Militärobjekten in Nordkurland an – mit seinem selbst wiederaufgebauten sowjetischen Militär-LKW GAZ-66 (für bis zu 24 Personen) und dem Militär-Jeep UAZ-3151 (für bis zu 6 Personen). Auf dem Gelände des Ferienhofes sind Fahrzeuge der Sowjetarmee und andere Technik zu sehen.