„Wind. Groll. Und die livländische Flagge.“ (Fragment) – Geisterschiffe und Stacheldraht

Gunta Kārkliņas Erinnerungen an die Sowjetzeit an der livländischen Küste – wie kam es dort zu dem Bootsfriedhof?

Die Jahre der Besatzung haben jedoch ihre Spuren hinterlassen. Als man einen Waldweg entlangging, tauchten plötzlich mehrere Fischerboote zwischen den Bäumen auf, und der Blick auf die Wracks öffnete sich. Wie Geisterschiffe, wie Schatten der Vergangenheit. Halb zusammengebrochen, schienen sie mit letzter Kraft ihre Würde und ihren Trotz zu bewahren. Bis zum Zweiten Weltkrieg lagen 48 Fischerboote im Dorf Mazirbe. Dann kam das Sowjetregime mit einem unstillbaren Durst nach Zerstörung und Verwüstung. Der Befehl war unmissverständlich: Boote verbrennen! „Aber die Liver sind stur“, sagt Gunta. „Nicht alle wurden verbrannt! Die Boote wurden weiter ans Ufer gezogen. In der Hoffnung, dass die Besatzer bald abziehen würden … Alle hofften, dass die Engländer zu Hilfe kämen und Lettland wieder frei wäre.“ Historische Quellen belegen, dass der Bootsfriedhof nach 1960 entstand, weil die Grenzsoldaten die traditionelle Verbrennung der ausgedienten Boote am Ufer, die zur Mittsommernacht stattfand, untersagten. Diese Boote blieben dort. Jahrzehnte vergingen, und die Boote wuchsen zu Bäumen heran. Die geisterhaften Wracks sind ein so lebendiges Zeugnis einer Ära, dass offizielle Geschichtsschreibungen dagegen verblassen.
Zu den absurden Verboten der Sowjetzeit zählte auch, dass das Meer nicht für alle „offen“ war. Für Küstenfischer wurden Normen festgelegt, ein Passierschein eingeführt und die alten Traditionen der Seefahrer zerstört. Jeden Abend wurde der Strand von Pferden, später von Traktoren, zertrampelt. So sollten Spuren im frisch gepflügten Land sichtbar sein, falls jemand auf die Idee kam, über das Meer nach Ziedrija zu fliehen, das vom „verrottenden Kapitalismus“ betroffen war. Nur ein etwa 200 Meter breiter Strandstreifen war zugänglich, beidseitig mit Stacheldraht umzäunt und von Grenzsoldaten mit Hunden patrouilliert. Ein Schild wies darauf hin: „Stopp! Strand geöffnet bis 22:00 Uhr“.
Glaubte die Sowjetregierung wirklich, die Leute würden übers Meer nach Ziedrija fliehen? „Man muss lachen! Niemand hat auch nur versucht, irgendwohin zu fliehen … In den ersten Nachkriegsjahren ja, aber später gab es solche Gedanken nicht mehr“, sagt Gunta und fügt hinzu, dass sie, die Kinder des Dorfes, einfach Kinder waren, sich nicht viele Gedanken über Erwachsenendinge machten und es gar keine so schlechte Kindheit war. Vielleicht nicht so unbeschwert wie in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort, aber schön genug, dass sie sich Jahre später noch gern daran erinnern. Nun ja, Armut gab es schon … Aber wo gab es die schon? Mazirbe hatte sowohl eine Fischereikolchose als auch eine normale landwirtschaftliche Kolchose. Und wie es in der Sowjetzeit üblich war, konnte man in den Läden nichts Brauchbares kaufen. Alles – ein einziges Defizit! Die Mädchen im Dorf konnten nur davon träumen, Staatsangestellte zu werden. Also mussten sie erfinderisch sein und aus dem Nichts etwas machen. Eine Nähmaschine galt als wahrer Schatz!“ Meine Mutter konnte nähen, und damals gab es unzählige Nähkünste. Sie nähte mir ein Schulkleid aus der alten Jacke meines Vaters. Die Damen nähten Kleider aus Federfüllung, die eigentlich für Kissen gedacht war – rosa, blau, orange. Aber wenn sie Watte hatten!...“ Guntas Augen leuchten in ihren Erinnerungen. „Dann liefen wir den ganzen Sommer in einem Kleid herum.“ Und dann konnten wir auch zum Ball im Livländischen Kulturhaus gehen. Gesellschaftliche Abende im Stil der Fernsehsendung „Blaue Flamme“, die in der gesamten Sowjetunion beliebt war, sollen in den Sowjetjahren sehr populär gewesen sein, mit Programm und Tanz. Natürlich kamen auch die Soldaten der in Mazirbe stationierten Einheit zu den gesellschaftlichen Veranstaltungen. „Wir hatten so viele Jungs, dass man einen Baum hätte schlagen können“, lacht Gunta. Haben die einheimischen Mädchen nicht geheiratet? „Sie haben geheiratet! Fast alle! Russen, Litauer, Letten auch... Es gab auch etliche Zivilisten und einheimische Jungs.“

Erzähler: Gunta Kārkliņa
Verwendete Quellen und Referenzen:

REAL LIFE 2009 Nr. 21 - eingesandt von Inese Roze (Touristeninformationszentrum des Kreises Talsi)

Zugehörige Objekte

Grenzwachturm in Mazirbe

Zur ehemaligen Marineschule Mazirbe gehörte ein Stützpunkt des sowjetischen Grenzschutzes mit einem bis heute gut erhaltenen Wachturm. Ein weiterer Beobachtungsturm befindet sich direkt am Strand in der Nähe des Parkplatzes. Die Türme sind Relikte aus der Zeit der sowjetischen Besatzung, als Mazirbe zum grenznahen Sperrgebiet gehörte. Zivilisten durften damals nur bestimmte Strandabschnitte betreten und dies auch nur tagsüber. Der ehemalige Wachturm des Grenzschutzes ist einer der besterhaltenen in Lettland. Betreten auf eigene Gefahr!