1972 – Das Opfer von Romas Kalanta
IV Die sowjetische Besatzung und der Kalte Krieg

1.jpg

Der Widerstand gegen das Sowjetregime war vielfältig. Manchmal löste die Tat oder das Opfer einer einzelnen Person große Wellen aus, die dem sowjetischen System erhebliche Sorgen bereiteten. So erging es Romas Kalanta.

Romas Kalanta (1953–1972) wurde im sowjetisch besetzten Litauen geboren. Romas‘ Vater kämpfte im Zweiten Weltkrieg in den Reihen der 16. litauischen Division und war Mitglied der Kommunistischen Partei. Romas‘ Mutter soll sehr religiös gewesen sein und ihre Kinder im katholischen Geist erziehen. Kalanta hätte ein ruhiges Leben als Sowjetbürger wählen können, doch er entschied sich für einen anderen Weg. 1971 sollte er das Gymnasium in Kaunas abschließen. Er fiel jedoch durch die Abiturprüfungen in Chemie, Geometrie und Physik und schloss die Schule nicht ab. An anderer Stelle wird erwähnt, dass er die Geschichtsprüfung nicht bestand, weil er sich nicht an die verbindlichen sowjetischen Dogmen ihrer Auslegung hielt. Im selben Jahr wurde er auch aus dem Komsomol ausgeschlossen. Kalanta wechselte auf die Abendschule und arbeitete in einer Fabrik. Sein damaliger Charakterzug zeigt, dass er langsam, ruhig und eher zurückhaltend war, gern analysierte und nicht dazu neigte, offen Freundschaften zu schließen. Er war belesen, schrieb Gedichte, trieb Sport und spielte Gitarre. Er mochte die Musik der Beatles. Es wird angenommen, dass er zu den Hippies gehörte oder mit ihnen sympathisierte – er hatte ein entsprechendes Aussehen und lange Haare. Der junge Mann verbarg nicht, dass er praktizierender Katholik war.

Am 14. Mai 1972 übergoss sich Kalanta mit Benzin im Garten des Musiktheaters in Kaunas und zündete sich an. Dabei rief er „Freiheit für Litauen!“. Die Bemühungen der Ärzte, Kalantas Leben zu retten, blieben erfolglos. Er starb am nächsten Tag um 4 Uhr morgens im Krankenhaus. Der letzte Eintrag im Notizbuch des 19-Jährigen lautete: „An meinem Tod ist nur das Regime schuld.“ Es war ein Protest gegen das Sowjetregime.

Angesichts dieses beispiellosen Falles ergriffen die lokalen kommunistischen Behörden und sowjetischen Sicherheitsstrukturen Maßnahmen. Sie erzwangen eine Vorverlegung von Kalantas Beerdigung, die am 18. Mai stattgefunden hätte, um zwei Stunden, um Menschenansammlungen zu vermeiden. Er wurde auch auf einem anderen Friedhof beerdigt, als die Angehörigen geplant hatten. Dies löste jedoch die als „Kaunaser Frühling“ bekannten Ereignisse aus. Die Menge junger Leute, die sich zur Beerdigung vor Kalantas Haus versammelt hatte, bog in die Kaunaser Laisvės-Allee ab. KGB-Berichten zufolge gingen während der zweitägigen Unruhen über 3.000 Demonstranten auf die Straße. Über 7.000 Draugoviner, Milizionäre und Soldaten wurden eingesetzt, um sie niederzuschlagen. Spezielle Militäreinheiten des Innenministeriums der Litauischen SSR wurden nach Kaunas entsandt. Es kam zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Soldaten. Dies war eine der größten Widerstandsaktionen gegen das Sowjetsystem in der Geschichte der Sowjetunion vor Beginn der Perestroika. Neben dem Kaunaser Frühling 1972 sind auch die Ereignisse der ganztägigen Parade in Kaunas 1956 erwähnenswert, die eine noch größere Menschenmenge von Tausenden anzog. 1972 weiteten sich die Proteste auf andere litauische Städte aus, wo 108 Menschen verhaftet wurden. Die Initiatoren dieser Ereignisse, die ihre politischen Untertöne verschleierten, wurden unter dem Deckmantel „kämpfender Hippies“ als Hooligans und „asoziale Elemente“ verurteilt. Kalanta wurde offiziell als psychisch krank eingestuft. Acht Jahre lang durften Kalantas Eltern keinen Grabstein auf dem Grab ihres Sohnes errichten.

Damals, im Jahr 1972, wurde Romas Kalanta zum Nationalhelden. Als solcher gilt er noch heute.

1.jpg
2.jpeg
Weitere Informationsquellen