Traditionen der Sowjetarmee – Dedovščina. Die Geschichte von Artūras Sakalauskas
IV Die sowjetische Besatzung und der Kalte Krieg

Das Phänomen der Schikane in der sowjetischen Armee kann als Ausdruck nicht-statutarischer Beziehungen verstanden werden. In beiden Fällen handelt es sich um ein Verhältnis zwischen Soldaten, das die Wehrordnung grob verletzt. Es äußert sich in physischer, psychischer und sexueller Gewalt gegen jüngere oder rangniedrigere Soldaten. Bei der Schikane demütigen und beuten ältere Soldaten jüngere oder neu eingetretene aus. Erstere gelten trotz einheitlicher Dienstgrade als überlegen. Daher bedeutet Schikane „Herrschaft der Älteren“. Beispiele für Schikanen sind: Geld, persönliche Gegenstände und Kleidung werden den Betroffenen weggenommen, sie werden geschlagen, zu körperlichen Übungen und Arbeiten anderer Soldaten gezwungen usw. Nicht-statutarische Beziehungen in der Armee entstehen durch Straflosigkeit, Schweigen und unzureichende Kontrolle durch Offiziere. Im Falle der sowjetischen Armee waren sie schlichtweg Teil der Armeekultur oder -tradition geworden. Man geht davon aus, dass die Schikane in den 1960er oder 1970er Jahren ihren Ursprung in der Armee hatte. Als verurteilte Personen zum Militärdienst eingezogen wurden, hielten sie möglicherweise auch Einzug in die Gefängnisse, wo sie ihre Sprache und ihre Ordnung pflegten. Es gibt jedoch auch andere Erklärungen für den Ursprung dieses Phänomens.

Die „Herrschaft der Alten“ hat viele Leben berührt und zerstört. Eine der bekanntesten und berüchtigtsten Geschichten ist die des litauischen Sowjetsoldaten Artūras Sakalauskas. Am 23. Februar 1987 erschoss er in einem Sonderwaggon eines Zuges von Swerdlowsk nach Leningrad acht Menschen: fünf seiner Kameraden, den Wachchef und dessen Stellvertreter sowie den Zugbegleiter. Zu dieser Tat wurde der Litauer durch wiederholte Schikanen seiner Kameraden provoziert. Man stülpte ihm eine Schüssel heiße Suppe über den Kopf, zündete ihm im Schlaf Streichhölzer zwischen den Fingern an (ein sogenanntes „Fahrrad“), mischte große Mengen Salz oder Sand in sein Essen, tauchte seinen Kopf in die Toilette, zwang ihn zu zehnstündigem Dienst ohne Pause, verbot ihm zu schlafen und schlug ihn. Am selben Tag versuchten zwei Soldaten, ihn zu vergewaltigen.

Später tauchten in der sowjetischen Presse diverse Falschmeldungen und Lügen auf, die Sakalauskas diskreditieren sollten. So verkündete beispielsweise das sowjetische Sprachrohr „Prawda“, Sakalauskas habe versucht, in den Westen zu fliehen, seine Kameraden hätten ihn daran gehindert, woraufhin er beschlossen habe, mit ihnen abzurechnen. Nur die „Komsomolskaja Prawda“ schilderte die Tragödie damals detailliert. 1987 schwieg die sowjetisch-litauische Presse über dieses Drama, und erst als die Sąjūdis-Bewegung an Zulauf gewann, wurden die Ereignisse in Litauen öffentlich gemacht.

Im Laufe des Prozesses wurde Sakalauskas, der zuvor psychisch gesund gewesen war, für psychisch krank und prozessunfähig erklärt. In Litauen wurden Tausende Unterschriften zu seiner Unterstützung gesammelt, und nach einiger Zeit wurde er von der Russischen Föderation nach Litauen ausgeliefert.

Weitere Informationsquellen